Die bunte Welt der Clara Schley


Durchzug, denke ich beim Eintritt in ihr Wohnzimmer, Durchzug ist wohl der größte Feind der Collagen-Künstlerin Clara Schley. Auf dem großen Esstisch liegen verstreut und gestapelt unzählige bunte Ausschnitte und Schnipsel herum. Erst wenn sich das Auge einen Überblick verschafft hat, schält sich aus dem vermeintlichen Chaos eine durchkomponierte Ordnung heraus. Claras Arbeitsmaterialien sind wohl sortiert und liegen nach ihrem eigenen System geordnet in Griffweite. Dennoch entspricht das kreative Durcheinander exakt dem Anliegen dieser Kunsttechnik, die mit dem Modernismus am Anfang des 20. Jahrhunderts Fahrt aufnahm: Etwas zerstören, aus seinem Zusammenhang reißen – und daraus etwas komplett Neues kreieren. Der Anfang der Collage wird bei Pablo Picasso verortet, der „Klebebilder“ fertigte, indem er Teile von Zeitungen oder Tapete auf seine Bilder applizierte. Es ging darum, die klassischen Gattungen der bildenden Kunst zu durchmischen, Schranken niederzureißen und aus ihrer Vermengung neue Gestaltungselemente zu gewinnen. Auch Clara ist der Faszination dieses Kunstverständnisses verfallen. Sie hält zwei Vintage-Magazine in die Höhe, die gleich auf ihrer Schneidematte landen werden, und sagt: „Die sind eigentlich was für Sammler, aber ich mache Kleinholz daraus.“ Dann beginnt das große Gemetzel, an dessen Ende ein neues, erstaunliches Kunstwerk steht. Ein Mosaik aus Papier, ein Bild aus Bildern.

Als Clara 2019 begann, sich der Collage-Technik zu widmen, war es nur die Wiederentdeckung einer alten Leidenschaft. Sie arbeitete zu dieser Zeit in der Kinderbetreuung und während des Bastelns mit ihnen kam die Erinnerung hoch an die Zeit, als sie 13 Jahre alt war und noch in Kuba lebte. „Damals hab ich begeistert Modedekollektionen für Anziehpuppen entworfen aus allem, was ich in die Finger bekam – aus Zeitungsausschnitten, aus Bonbonpapier, ganz egal.“ Eigentlich war es ihr größter Wunsch damals, Modedesignerin zu werden. „Aber mein Stiefvater war dagegen.“ Clara greift nach zwei papiernen Figuren und demonstriert, wie schnell sie noch immer Klamotten entwerfen kann. Eine der Paper Dolls bekommt eine Cargo-Hose mit Mammut-Muster, die andere ein „Ball-Kleid“ aus Fußbällen. Und erstaunlicherweise ergibt das einen authentischen Teenager-Look, sozusagen aus dem Handgelenk.

Zu der natürlichen Affinität, die sie mit dem Medium Papier verbindet, kam dank Youtube Tutorials das technische Können und das Wissen um die Wirkungsweisen von Farben und Formen hinzu. Während der Pandemie, als das Leben stillstand, begann Claras Kunst zu wachsen. Jeden Tag sitzt sie an ihrem Collagen-Tisch und arbeitet. „Ich habe mir eine kleine Schneidematte gekauft, so dass ich auch abends auf dem Sofa vor dem Fernseher Motive ausschneiden kann.“ Denn Vorrat ist wichtig. Scheinbar alle verfügbaren Motive kann die Künstlerin innerhalb kürzester Zeit in einem der Stapel lokalisieren. Es ist wichtig, dass die Geschwindigkeit der Handgriffe mit der ihrer überfließenden Fantasie auch Schritt halten kann. Während unseres Gesprächs schneidet und reißt Clara mit gekonnten Handgriffen die gewünschten Fragmente in Form. Das Bild entsteht während des kreativen Prozesses. „Es gibt meist kein Konzept für die Gestaltung. Ich kreiere das Bild auf dem Papier in dem Moment, wenn ich es vor mir sehe.“ Selbst wenn sie Auftragsarbeiten fertigt, hat sie zwar ein Thema für eine Collage als Vorlage, doch die Gestaltung folgt gänzlich ihrer inneren Intuition und Stimmung.

Während unseres Gesprächs arbeitet sie konzentriert weiter. Laut vor sich hin sprechend, damit wir ihren Gedankengängen folgen können, entwickelt und erzählt sie eine ganze Story. „Diese Chica mag Natur und liebt Farben, so wie ich“, sagt sie und arrangiert ein Frauenporträt auf einem exotischen Hintergrund. Clara hat die Formen im Griff, weiß mit einem Blick ganz genau, wohin ein Gestaltungselement passt. So entspricht der Rücken eines Leoparden dem eleganten Schwung einer Stirn. Nun kommen noch Schmetterlinge und Vögel hinzu. „Der Jaguar will die Papageien fangen“, murmelt Clara und lacht leise vor sich hin. In ihrem Kopf lebt die magische Geschichte schon, die jetzt vor unseren Augen Gestalt annimmt. Ihre Gedanken sind schneller als ihre Hände. „Ich bin generell ein sehr ungeduldiger Mensch. Die Collagen helfen mir, runterzukommen und ruhiger zu werden“, gesteht sie. Kunst als Meditation.

Weißes Papier mag Clara genau so wenig wie gerade Schnittränder. Sie steht auf und sucht auf dem Tisch nach einer passenden Szenerie für den Hintergrund. Die Stapel und Häufchen sind streng klassifiziert. Nicht nur thematisch nach Kleidung, Blumen, Tieren, Essen oder Sport, sondern auch stilistisch. Die historischen Zeitschriften liefern meist Bilder in schwarz-weiß oder sepia. Die wirken allein zu blass, deshalb mixt Clara diese Ausschnitte mit solchen aus neuen Magazinen. Es sind Massen von Druckerzeugnissen, die bei der Künstlerin unters Messer kommen. Für ihre Zwecke kauft sie daher keine aktuellen Exemplare am Kiosk, sondern nimmt mit, was als Werbebroschüren gratis zu haben ist, stöbert auf Flohmärkten oder bekommt die ausgelesenen Zeitschriften von Freunden und Bekannten. In einem Fall arbeitet sie in einem Kochbuch und nutzt die üppigen Fotoseiten, um direkt darauf zu arbeiten und damit ihre Collagen zu gestalten.

Seit 2005 lebt Clara Schley in Porto Cristo. Sie war von Anfang an beteiligt an dem von Künstlern initiierten Street Art Projekt „Callejon del Arte“. Ihre Arbeiten, die dem breiten Publikum sonst nur über Instagram zugänglich sind, können in Porto Cristo hinter Glas an der Eingangstür eines Ladengeschäfts bewundert werden. Diese XXL-Dimension beweist, dass ihre Collagen nicht nur in der üblichen A-4-Größe ihren Zauber entfalten. Gerahmt und im Original bleibt die Authentizität zwar am besten erhalten, aber auch die digitalisierte Übertragung in andere Formate hat ihren Reiz. Daher ist es Claras neueste Idee, Einkaufsbeutel mit ihren fantasievollen Motiven bedrucken zu lassen. Collagen als Design-Element, so ihre Idee, bringen Farbe in den Alltag.

Claras Bilder sind von Humor und Witz geprägt. Sie nimmt Klischees auf die Schippe, bedient sie aber auch. Eine Frau im Sportdress, die ihren Workout im Joghurt macht, Menschen die unter der Last der Technik zusammenbrechen oder sich für die Mode verbiegen. Auf den ersten Blick sehen die Collagen manchmal „nur“ dekorativ aus, sie bergen jedoch immer mehrere Bedeutungsebenen. Das Bild von einer Frau, umgeben von vielen Spiegeln, trägt den Titel „Wie du mich betrachtest“. Auch ganz verträumte, fast melancholische Momente finden sich in den Arbeiten: Ein Mädchen mit geschlossenen Augen, den Kopf in den Nacken gelegt, um um sie herum steigen glitzernden Strasssteine wie Traumblasen in den Himmel auf. Zwei Kinder, die sich an den Händen aneinander klammern, als schwörten sie sich ewige Treue – doch im Vordergrund wartet schon ein Schiff, das eines von ihnen vielleicht davon bringt, wer weiß für wie lange. Die Geschichten, die in den Collagen von Clara schlummern, bergen für jeden Betrachter eine Fülle an ganz eigenen Assoziationen. Man kann darin lesen und versinken wie in einem Buch.

Instagram: schleyarts

Callejón del Arte, Porto Cristo, Carrer d’En Sureda


Text: Christiane Sternberg

Fotos: Marcos Gittis

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